Unsere Autorin wohnt in einer der vielsprachigsten Städte der Schweiz. Sie nimmt uns mit in ihren Alltag und zeigt Chancen und Hürden auf.
Es ist für mich immer wieder faszinierend, dass ein kleines Land wie die Schweiz so divers ist. Wir haben neben vier Landessprachen, die unsere Sprachkultur prägen, eine stetig wachsende Sprachenbuntheit durch die Zuwanderer*innen aus dem Ausland. Eine Bereicherung, wie ich finde, für eine vielfältige Lebensart.
Denn Sprachen beeinflussen unsere Persönlichkeit. In einem Beitrag des Onlineanbieters für Sprachkurse Babbel schrieb die Autorin Weina Zhao: «Zahlreiche Studien konnten bereits aufzeigen, dass zwei- oder mehrsprachige Menschen tatsächlich unterschiedliche Charakterzüge und sogar Wertvorstellungen aufweisen, die sich der jeweiligen Kultur der Sprache anpassen.»
Sie selbst habe festgestellt, dass sie auf Deutsch schüchterner sei, als wenn sie etwa Spanisch oder Englisch spreche. Ihre Ausdrucksweise würde in diesen beiden Sprachen lockerer wirken, ausserdem haben sie das Gefühl, sie müsse sich auf Deutsch in ihren Äusserungen zurückhalten.
In Biel werden über 70 Sprachen gesprochen
In Biel, der Stadt, in der ich seit rund elf Jahren lebe, begegne ich täglich einem Sprachenmix aus Französisch und Deutsch. Biel wird auch «die kleine Schweiz» genannt. Gemäss der Website der Stadt Biel sprechen knapp 57% der Einwohner*innen Deutsch, 43% sprechen Französisch. Neben den Hauptsprachen Französisch und Deutsch bereichern Staatsangehörige aus 148 Ländern die Stadt zusätzlich. Sie machen einen Drittel der Bieler*innen aus und sprechen rund 70 Sprachen.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie es sich für mich anfühlt, wenn ich die Sprache wechsle. Durch die Flexibilität, die mir durch die Mehrsprachigkeit abverlangt wird, empfinde ich mich, seit ich hier wohne, als offener und mutiger. Das Sprachgemisch, welchem ich im Alltag begegne, fördert meine Anpassungsfähigkeit und öffnet mich für neue Denkansätze. Und oft geschieht der Wechsel von der einen zur anderen Sprache im Höchsttempo.
«Meist werde ich von Unbekannten auf Französisch angesprochen.»
In meinem Lieblingscafé an der Dufour-Strasse treffe ich mich mit einer Freundin. «Buongiorno signora!», begrüsst mich der freundliche Kellner, ein Italiener. Er serviert mir einen Cappuccino, den ich nicht mal bestellen muss. Er kennt seine Stammgäste und ihre Wünsche in- und auswendig. «Merci beaucoup!» Ich trinke einen Schluck, schon setzt sich meine Verabredung zu mir an den Tisch. «Hey! Wie gehts dir?» Wir umarmen uns. Dann wird sie von jemandem angestupst. «Salut! ça va? Ça fait longtemps!» Die beiden smalltalken einen kurzen Augenblick und wechseln ihre Sprache abwechselnd von Deutsch zu Französisch, bis sich meine Bekannte mir wieder auf Deutsch zuwendet. Nichts Aussergewöhnliches.
Meistens werde ich von Unbekannten auf Französisch angesprochen. Z.B. in Läden, bei der Post oder im Restaurant. Vermutlich weil man mir ansieht, dass ich bikulturell bin, und die meisten Menschen davon ausgehen, dass People of Colour kein Deutsch sprechen. Wenn mir die Unterhaltung leichtfällt, stimme ich in das Französische ein. Wenn ich aber zum Beispiel beim Arzt bin, bevorzuge ich Deutsch. Einfach, weil es meine Muttersprache ist.
Ob ich nun Hochdeutsch spreche oder ob auch Schweizerdeutsch geht, kommt ganz auf den sprachlichen Hintergrund meines Gegenübers an. Mein Sprachgemisch besteht hauptsächlich aus Schweizerdeutsch, Deutsch und Französisch. Je nachdem, in welcher Gegend der Stadt ich mich bewege, dominiert dann die eine oder andere Sprache etwas mehr. In den ländlicheren Vierteln fällt mir auf, dass ich Schweizerdeutsch stärker wahrnehme als in den dichter besiedelten Quartieren. Begebe ich mich ins Stadtzentrum, verschmelzen Deutsch und Französisch miteinander.
Ein Schulmodell gegen Sprachbarrieren
Besonders beeindruckt mich der Umgang mit den Sprachen bei den Kindern. In den meisten Schulen in Biel gibt es entweder deutsch- oder französischsprachige Klassen. Wenn sich zwischen den deutsch- und französischen Kindern ausserhalb ihres Schulzimmers Freundschaften bilden, wird die Sprachtrennung schnell überwunden.
Kinder, die zu Hause weder Französisch noch Deutsch sprechen, und mit ihren Eltern frisch in die Schweiz gezogen sind, haben in Biel die kostenlose Möglichkeit, vor ihrem Schuleintritt eine der beiden Sprachen zu erlernen.
In der Bieler Filière Bilingue, der einzigen zweilingualen Schule der Stadt, werden die Kinder zu gleichen Teilen in Deutsch und Französisch unterrichtet. Da es in Biel viele Kinder mit Migrationsgeschichte gibt, kann ich mir vorstellen, dass es für die Kinder, die zu Hause weder die eine noch die andere Landessprache sprechen, eine grosse Herausforderung ist, gleich in zwei Sprachen unterrichtet zu werden. Trotzdem ist es auch in dieser Konstellation immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Kinder anpassen und in kürzester Zeit miteinander kommunizieren.
«Ich bewundere, wie gut mehrsprachig unterrichtete Kinder mit weniger erfreulichen Beurteilungen umgehen.»
«Ich beobachte, dass die Kinder durch den zweisprachigen Unterricht experimentierfreudig und offen sind. Sie trauen sich, Unsicherheiten zu überwinden und einfach mal drauflos zu reden.» Das sagt Mirjam Bangoura. Die Lehrerin unterrichtet an der Filière Bilingue auf Deutsch.
Kinder, die schon früh lernen würden, zwischen mehreren Sprachen hin und her zu switchen, seien auch sehr flexibel, wenn es um das gleichzeitige Erledigen von verschiedenen Aufgaben ginge. Ein weiterer Pluspunkt ist gemäss Bangoura auch die Kritikfähigkeit, welche mehrsprachige Kinder bereits in einem jungen Alter an den Tag legen würden. «Ich bewundere, wie gut mehrsprachig unterrichtete Kinder mit weniger erfreulichen Beurteilungen umgehen.»
Auch die Entwicklungspsychologin Anja Gampe, die an der Universität Zürich zum Thema kindlicher Spracherwerb forscht, bekräftigt die Vermutung, dass mehrsprachige Kinder kommunikative Vorteile hätten. In einem Interview im Elternmagazin Fritz und Fränzi sagt sie: «Wir haben erforscht, dass zweisprachige Kinder besser mit Missverständnissen umgehen können. Sie sind durch die verschiedenen Sprachsituationen gewohnt, dass sie etwas nicht verstehen, oder auch selber nicht verstanden werden, und gehen versierter mit schwierigen Kommunikationssituationen um als einsprachige Kinder.»
«Ouvert le Sonntag»
Zusammengefasst überzeugt ein bilinguales Schulmodell mit den Vorteilen einer besseren Kommunikationsfähigkeit, die Kinder schon früh entwickeln. Mirjam Bangoura sieht jedoch auch Herausforderungen. Es gebe Unterrichtsstunden, in denen sich die Schüler*innen in der jeweiligen Fremdsprache mehr anstrengen müssten als diejenigen, die eine einsprachige Schule besuchen. «So kann es vorkommen, dass die Kinder dem Inhalt weniger folgen können, als wenn er durchgehend nur in Deutsch oder Französisch vermittelt wird.» Inhalte würden deshalb zusätzlich mit Bildern und praktischen Übungen bearbeitet.
Vom Klassenzimmer kehre ich wieder zurück in den Bieler Alltag. Hier höre ich nicht nur gleichermassen die zwei Hauptsprachen Französisch und Deutsch, sie vermischen sich auch in den Beschriftungen öffentlicher Orte. «Ouvert le Sonntag», steht etwa in Grossbuchstaben auf einem Plakat meines Stammcafés. Auch die Stationsanzeigen in Bussen, Verkehrsbeschriftungen und Werbeplakate sind gleichwertig in den beiden Sprachen beschildert.
Seit der Abstimmung vom 18. Juni 2023 sind bewilligungspflichtige Werbeplakate in beiden Sprachen sogar Vorschrift. Dabei müssten Plakate nicht zweisprachig sein, sondern in beiden Sprachen, also sowohl in Deutsch als auch Französisch, aufhängen. Erich Fehr (SP), Stadtpräsident der Stadt Biel, erhielt Gegenwind wegen der neuen Gesetzesänderung. Der Stadtregierung wurde von der gegnerischen Seite ein «Sprachzwang» vorgeworfen. Fehr entgegnete gegenüber SRF, dass in einer bilingualen Stadt eine solche Pflicht notwendig sei. Private Werbung dürfe allerdings immer noch frei beschriftet werden.
«Wann gehen wir wieder einmal in die Piscine?»
Bei meinen eigenen Kindern fällt mir auf, dass sie bestimmte Orte oder Ausdrücke auf Französisch in ihren deutschen Wortschatz einbauen, weil sie diese visuell in der Öffentlichkeit so wahrnehmen. «Mama, wann gehen wir wieder einmal in die Piscine?», heisst es dann etwa.
Doch es bleibt nicht nur beim Französisch und Deutsch. Dadurch, dass Biel von verschiedenen weiteren Sprachen und Kulturen geprägt ist, lerne ich im Alltag gerade durch meine Kinder immer wieder neue Ausdrücke, die sie von ihren Schulfreund*innen lernen. Arabische, kroatische, italienische und weitere Sprache fliessen somit in unseren Alltag. Wenn ich auf dem Spielplatz afrikanische Kinder mit ihren Schweizer Freund*innen albanische Lieder singen höre, löst dies in mir ein Gefühl der Hoffnung aus. Hoffnung darauf, dass der Mensch an sich Freude und Interesse am Austausch und am Vereinen von verschiedenen Kulturen hat.
Sprachenvielfalt als gesellschaftliche Brücke?
Biel könnte man fast als kleines Vorbild für die restliche Schweiz bezeichnen, weil hier aufgezeigt wird, dass ein Zusammenleben mit mehreren Sprachen gut funktionieren kann.
Bei Gesprächen im öffentlichen Raum legt jeweils diejenige Person die Sprache fest, die die Unterhaltung eröffnet. Dabei spielt es keine Rolle, wie gut oder schlecht das Gegenüber die Sprache beherrscht. Es darf auch ohne weiteres immer wieder mal geswitcht werden. Seit den 1980er-Jahren gibt es sogar eine Bezeichnung für diese spezifische sprachliche Interaktion: das «Bieler Modell».
Meine Erfahrung ist, dass eine gelebte Mehrsprachigkeit den Horizont erweitert und so die Bereitschaft wächst, sich mit Menschen zu verbinden, die aus einem anderen Sprachraum stammen. Es würde schon genügen, wenn es in der Schweiz noch mehr Orte wie in Biel geben würde, an denen Kulturen und Sprachen spielerisch aufeinander treffen, um eine aufgeschlossene Gesellschaft zu fördern.
Coralie Melissa Niang bezeichnet sich als Mixed-Child und lebt seit 2012 in Biel. Sie ist Menschenzuhörerin und schreibt gern Geschichten, «weil sie das Wichtigste sind, um die Welt zu begreifen».