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«Wenn ich von männlichen Freunden erzählte, wurdet ihr ganz blass im Gesicht»

Arzijes Eltern kamen aus dem Kosovo in die Schweiz. In einem Brief an ihre Eltern beschreibt sie, wie es für sie war, in der Schweiz aufzuwachsen.

Liebe Nani, lieber Babi

Ich habe die Brote geliebt, die ihr mir immer mit viel Fleisch belegt habt. Damals war ich noch keine Veganerin und wusste nicht, dass es eine globale Erder­wärmung geben würde. In der Znüni-Pause, wenn alle Schweizer*innen ihre kleinen mit Frisch­hal­te­folie verpackten Brötchen auf den Tisch legten, fiel ich auf mit meiner glänzenden Alufolie und den Brotscheiben, die so dick waren, dass ich Mühe hatte davon abzubeissen. Die neugie­rigen Blicke liessen mich unwohl fühlen und ich versuchte so versteckt wie möglich mein Sandwich zu essen.

Wisst ihr noch, als ihr meine älteste Schwester am ersten Kinder­gar­tentag mit einem Plastiksack als Schul­tasche losge­schickt habt? Sie kam schluchzend nach Hause, weil die anderen Kinder sie ausge­lacht hatten. Bei mir wusstet ihr es besser und ich bekam einen kleinen Schulthek. Gerüstet mit dem stabilen Rucksack und gutem Deutsch, das ich bereits mit meinen älteren Geschwi­stern geübt hatte, konnte mir nichts im Weg stehen. Aber du, Babi, konntest es nicht lassen.

Ich wollte einfach nur so aussehen wie die anderen.

Ein rosa Kleid aus dem Balkan hattest du mir mitge­bracht, mit Puffärmeln und Glitzer­steinen darauf. Du wolltest, dass es ein spezi­eller Tag wird, und ich mich schön fühle. Ich habe geweint und wollte einfach nur so aussehen wie die anderen. Doch du hattest es gut gemeint und gedacht, dass ich mich freue. Ich denke heute noch daran und bin böse auf mich, dass ich dich nicht verstanden habe.

Wenn es Eltern­ge­spräche gab, war ich jedoch froh, wenn ihr nur die Hälfte von dem verstanden habt, was der Lehrer sagte. Einen Bachelor habe ich ja doch abgeschlossen, obwohl niemand von den Lehrper­sonen an mich glaubte. Ich sprach früh fliessend Schwei­zer­deutsch, dennoch habe ich mich oft mit meinen Schweizer Freun­dinnen missverstanden.

Die erste Einladung zu einem Barbecue ging nach hinten los.

Eines Nachmittags war ich bei einer Freundin zu Hause. Das erste Mal. Ihre Mutter fragte, ob ich «Guetzli» wollte. Ich sagte schüchtern «Nein». Ihr hattet uns beigebracht, höflich abzulehnen, wenn jemand zu Trinken oder Essen anbot. Die Person würde dann nochmals fragen und nach dem dritten Fragen, durfte man dann «Ja» sagen. Es kam aber keine Frage mehr und mein Magen knurrte für den Rest des Tages.

Die erste Einladung zu einem Barbecue ging auch nach hinten los, als ich mit einer Box Pralinen und rotem Kopf dastand. Meine Freunde waren verwirrt, warum ich Schokolade aber keine Wurst dabei­hatte. Ich war mir es gewohnt, dass der Gastgeber alles auftischt, und der Gast bringt als Danke­schön eine Süssigkeit mit.

Ich wurde älter und wollte abends ausgehen. Wenn ich von männlichen Freunden und Kinobe­suchen erzählte, wurdet ihr ganz blass im Gesicht. Euer Misstrauen gegenüber diesem immer noch fremden Land war zu stark, um meine Wünsche zu verstehen. Unsere Diskus­sionen hatten nie ein Ende, und mein albani­scher Wortschatz war trotz der besuchten Albanisch-Schule schnell begrenzt. Wenn ich euch meine Gedanken mitteilen wollte, stockte ich abermals, bis ich alle meine Gefühle fallen liess. Deutsch war meine Mutter­sprache geworden, obwohl du, Nani, doch Albanisch sprichst.

Mein Wortschatz war trotz der besuchten Albanisch-Schule schnell begrenzt. 

Ich fügte und integrierte mich über die Jahre immer stärker, bis ich glaubte, meine Wurzeln vergessen zu haben. Zu lange war ich schon in der Schweiz und zu weit weg von eurer Heimat.  Wenn ich euch besuchen komme, und der albanische TV-Sender im Hinter­grund läuft, fühle ich mich wieder verbundener.

Ich bin euch dankbar, habt ihr darauf bestanden, dass wir eure Sprache nicht vergessen. Ich bin euch dankbar, habt ihr uns zwei Zuhause geschenkt. Ich bin euch dankbar über alle die Diffe­renzen, die mir heute meine offene Weltsicht geben. Danke, liebe Nani und lieber Babi.

 

  1. sehr guet g‘schribe.. lebändig, visuell??? ha müese lache.. sind mir aber au es paar träne cho ??

  2. Kristina Cosic

    Ah diese Pralineschachteln…“bi eus dunne“ gingen die erstmal durch das ganze Dorf bis die Verpackung nicht mehr neu aussah, erst dann durfte man die öffnen :‘). Vielen Dank für den tollen Artikel!

  3. Mir het din schriebstil mega gfalle und ich han mängisch eif es schmunzle gha, willi s‘gliche erlebt han. Ich han au oft müesse hungere be mine kollege, aber irgendwänn hani mich entschiede, eifach ja zsege. Ich häts toll gfunde, wenn du frage wie „wieso essisch kei schwei­ne­fleisch“ oder „chasch mir fluech­wörter uf dini sprach bibringe“ ibaut hättisch, aber das isch meckere uf höchstem niveau.

    • Hey Besnik! Danke fürs Lesen! Irgendwann habe ich es dann zum Glück auch gelernt. Diese Fragen und viele andere wären sicher auch sehr spannend gewesen! Danke für dein Feedback, schätze ich sehr!

      • Sehr schön gschribe und oft müesse schmunzle ❤️ danke für dä Bitrag.

  4. Oh, das mit den Guetzli kenne ich auch. 😀 Die Schweizer Kinder haben uns auf Schul­reisen auch immer die Chips wegge­gessen, weil sie ganz normal gefragt haben, während wir so erzogen worden waren, dass man uns 3x was anbietet, bevor wir zulangen. 😀

  5. wow, so schön geschrieben. es wieder­spiegel all die dinge, die auch ich und viele andere so erlebt und empfunden haben. manchmal eine schwere und zugleich doch so sehr geliebte kindheit <3

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