Jährlich sind über 7’500 Frauen in der Schweiz von häuslicher Gewalt betroffen. Die Dunkelziffer ist hoch. Wo sie Hilfe kriegen, erklärt Anna Tanner von der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern.
Ich treffe Anna Tanner im Aussenbüro der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Ihr fröhliches Auftreten und ihre Gastfreundschaft schaffen eine freundschaftliche Atmosphäre. Anna Tanner arbeitet als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus in Bern und ist bereit, mir einige Fragen zu ihrer Arbeit zu beantworten. Sie sagt: «Es ist wichtig, einen Ort zu schaffen, an den Frauen hingehen können, wenn es zu Hause aufgrund der Gewalt nicht mehr geht.»
Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind mehr Frauen von häuslicher Gewalt betroffen als Männer. Im Jahr 2018 waren es insgesamt 7’576 Frauen und Mädchen, dem gegenüber stehen 3’077 Männer und Knaben. «Das zeigt, dass wir noch immer in einer Struktur leben, in der ein Machtgefälle herrscht. Diese sollten wir hinterfragen», so Tanner. Das Frauenhaus bietet Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, eine vorübergehende Unterkunft. Die Idee entstand aus der Frauenbewegung der 70er-Jahre heraus. 1978 wurde der Verein zum Schutz misshandelter Frauen und ihrer Kinder offiziell gegründet. Ein Jahr nachdem das erste Frauenhaus der Schweiz eröffnet worden war.
«Wir leben in einer Struktur, in der Machtgefälle herrschen.»
Gewalt wird als systematisch bezeichnet, wenn sie wiederholt auftritt. Im Frauenhaus wird sie in fünf Formen unterteilt – physische, psychische, sexuelle, soziale und ökonomische Gewalt. Beispiele gibt es viele. So ist etwa von sozialer Gewalt die Rede, wenn das Opfer eingesperrt oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. «Es kann vorkommen, dass der Mann die Frau zu Hause einsperrt, sie isoliert oder kontrolliert, wohin sie geht, und mit wem sie sich treffen darf», erklärt Tanner. Von ökonomischer Gewalt ist die Rede, wenn die Frau zwar arbeiten darf, das Gehalt jedoch zu Hause abgeben muss oder kein eigenes Geld zur Verfügung hat 615–544-7059 , wenn sie nicht arbeitet.
Frauen, die mindestens einer dieser Gewaltformen zum Opfer fallen, können sich jederzeit telefonisch beim Frauenhaus melden. Die Gespräche können anonym stattfinden; die Sozialarbeiterinnen klären die Frauen über die Unterstützungsmöglichkeiten auf. «Kam es beispielsweise zu einem Streit oder einer einmaligen Ohrfeige, empfehlen wir entsprechende Beratungsstellen. Bei schwerwiegenderen Fällen kann die Frau ins Frauenhaus kommen», erklärt Tanner. Dort bleiben die Frauen im Durchschnitt 40 Tage lang.
«Es ist wichtig, dass die Frauen tun können, was sie für richtig halten.»
Die Schicksale und Geschichten der Frauen schlagen aufs Gemüt. «Sie machen traurig und wütend», erklärt Tanner. Gleichzeitig gebe ihr ihre Arbeit Hoffnung, «denn wir haben die Möglichkeit, etwas zu ändern und die Frauen zu unterstützen», so die 31-jährige Sozialarbeiterin. Doch wie geht man mit der bizarren Beziehungsdynamik um, die viele Fälle begleitet? Schliesslich soll es immer wieder Frauen geben, die trotz häuslicher Gewalt zu ihren Männern zurückkehren. «So Fälle sind natürlich schade. Aber letztendlich ist es die Entscheidung der jeweiligen Frau. Ich kann hier nur meine Meinung äussern», sagt Tanner. Es sei ihr wichtig, dass die Frauen tun könnten, was sie für richtig hielten.
Tanner selbst ist Bezugsperson für zwei Klientinnen. Ihren Klientinnen wollen die Sozialarbeiterinnen trotz des neuen Wohnortes eine gewisse Alltagsstruktur ermöglichen. So finden täglich Morgensitzungen statt, in denen aktuelle Themen diskutiert und das Kochgeld ausbezahlt wird, denn täglich kocht eine Frau das Mittagessen für die ganze Gruppe. Währenddessen gehen die anderen ihren Pflichten nach: Sie besichtigen Wohnungen, organisieren Postumleitungen, bringen die Kinder zur Schule oder besuchen die Psychotherapie. Für das Abendessen sind die Frauen jeweils selbst zuständig.
«Ich finde es sehr gut, dass wir genug Zeit für regelmässige Beratungen der Frauen haben. Bei anderen Sozialdiensten ist eine so enge Begleitung kaum möglich», so Tanner. Dennoch gäbe es auch in den Frauenhäusern Probleme, die gelöst werden müssten. Beispielsweise stellen Ressourcen- und Platzmangel Schwierigkeiten dar. Gemäss der Istanbul-Konvention, die die Schweiz am 11. Mai 2011 unterzeichnet hat, sollten in der Schweiz 750 Frauenhausplätze existieren. Momentan sind es nur 300. Auffallend ist auch, dass es nur in der Stadt Zürich ein Mädchenhaus gibt – dies obwohl Minderjährige auf mehr Betreuung angewiesen sind.
«Schweizerinnen haben vermehrt die Möglichkeit, sich selbständig zu befreien.»
Doch wer landet überhaupt im Frauenhaus? Gibt es Kategorien von Frauen, die stärker von häuslicher Gewalt betroffen sind? Tanner verneint: «Kategorien gibt es keine, denn Gewalt hat keine Kultur.» So sind ein Drittel der Frauen, die wegen häuslicher Gewalt ins Frauenhaus kommen, Ausländerinnen, ein weiteres Drittel Schweizerinnen, und wiederum ein Drittel Schweizerinnen, die mit einem Ausländer verheiratet sind. «Allerdings haben Schweizerinnen vermehrt die Möglichkeit, sich selbständig aus einer solchen Situation zu befreien, da sie öfters finanziell abgesichert sind, oder Bekannte haben, zu denen sie gehen können», so Tanner.
Die Arbeit im Frauenhaus habe sie stark sensibilisiert, so Tanner. «Wir sind hier sehr kritisch, was einige gesellschaftliche Diskussionen angeht. Wenn einer Frau unterwegs etwas passiert, denken immer noch viele, dass sie aufgrund ihrer Kleidung oder ihres Verhaltens selbst schuld an der Situation gewesen sei. Wir wissen, dass solche Annahmen in fast allen Fällen falsch sind.» Weiter würden durch die Arbeit schädliche Beziehungsmechanismen und Muster deutlich vor Augen geführt: «Zu Beginn ist es schwierig, eine Grenze zwischen einem Konflikt und Gewalt zu ziehen. Mit der Zeit erkennt man jedoch Strukturen und Verhaltensmechanismen, und weiss, wie beispielsweise psychische Gewalt aussieht.»
«Mit der Zeit weiss man, wie psychische Gewalt aussieht.»
Eines der grundlegendsten Probleme sei, dass viele Frauen nicht wissen, dass es in der Schweiz Frauenhäuser gibt. Weiter kommt vor allem für Familien mit Migrationshintergrund externe Hilfe oft nicht in Frage. «Es kann sein, dass die Informationen nicht zu diesen Frauen gelangen. Oder dass die Familie einen Aufenthalt im Frauenhaus nicht zulassen würde.» So hätten Familien in gewissen Milieus einen sehr hohen Stellenwert, der nicht in Frage gestellt werden dürfe. Dieser Stellenwert würde durch das Weggehen gefährdet werden. «Oft ist der Zusammenhalt der Familie und das klassische Familienmodell von Vater, Mutter, Kind extrem wichtig. Durch eine Trennung würde es aus dem Gleichgewicht geraten, was in gewissen Milieus nicht passieren darf.» Dies müsse sich ändern, gerade weil es in der Schweiz viele Anlaufstellen und Hilfeangebote für Frauen gäbe, so Tanner.
«Häusliche Gewalt ist keine Privatsache.»
Männerhäuser existieren ebenfalls, beispielsweise in Bern. Betroffene Menschen sollten ermutigt werden, sich zumindest telefonisch bei Fachstellen Hilfe zu holen. «Denn Häusliche Gewalt ist keine Privatsache», so Tanner. Um sich aus der Gewaltspirale zu lösen, brauche es meist Hilfe von professionellen Stellen. «Ein wichtiger Schritt für eine gewaltfreie Gesellschaft wäre eine echte, gelebte Gleichstellung von allen Geschlechtern.»
