In einem NZZ-Kommentar wird die Schweizer Kriminalstatistik 2024 genutzt, um Stimmung gegen «Ausländer» zu machen. Warum sich Journalisten besser informieren sollten. Und was die Zahlen wirklich aussagen. Ein Beitrag von Ayaan Mehdi.
In einer Zeit, in der simplifizierende Narrative und populistische Hetze die Debattenlandschaft zu dominieren scheinen, wird es immer wichtiger, die komplexen Realitäten hinter den Schlagzeilen sichtbar zu machen. Ein aktuelles Paradebeispiel liefert uns Sebastian Briellmann von der NZZ, der mit seiner Kolumne – mit einem ebenso unbeholfenen wie provokativen Titel – versucht, aus scheinbaren «Fakten» ein verzerrtes Bild zu malen, in dem Ausländer pauschal als Verursacher eines «importierten Gewaltproblems» dargestellt werden. Ein solches Vorgehen öffnet nicht nur Tür und Tor für fremdenfeindliche Stimmungen, sondern unterminiert auch den notwendigen Diskurs in einer offenen, demokratischen Gesellschaft.
Ein verzerrter Blick auf die Polizeistatistik
Die offizielle Polizeistatistik 2024 des Bundesamts für Statistik (BFS), die Briellmann als Basis für seine Hetze nutzt, ist eigentlich ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie komplexe Sachverhalte simplifiziert und aus dem Kontext gerissen werden können. Wer sich die Zahlen genauer ansieht, erkennt schnell, dass Straftaten in drei Kategorien unterteilt werden: Verstösse gegen das Strafgesetzbuch (StGB), das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) und das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Letzteres hat einen entscheidenden Haken: Es betrifft per Definition ausschliesslich ausländische Personen – schlichtweg, weil diese Gesetze für Schweizer*innen gar nicht anwendbar sind. Ein statistischer Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen ist deshalb allein methodisch sehr fragwürdig.
Besonders absurd wird es, wenn man bedenkt, dass eine «Straftat» in diesem Bereich bereits das blosse Versäumen einer fristgerechten Aufenthaltsverlängerung sein kann – ein bürokratischer Fehltritt, der oft weniger mit krimineller Energie als mit überlasteten Behörden zu tun hat. Doch in der Statistik erscheint es dennoch als «Ausländerkriminalität». Und als wäre das nicht genug, handelt es sich hierbei auch nur um polizeilich registrierte Tatverdachtsfälle – also Beschuldigungen, die in späteren Ermittlungen oft gar nicht standhalten.
Insgesamt wurden 44’434 dieser «Straftaten» registriert, von denen 6’147 aus der Asylbevölkerung stammen – ein Anteil von etwa 6,7 Prozent. Diese Zahlen dokumentieren also nichts weiter als die systemimmanente Erfassung administrativer Verstösse. Ein generelles Ausländerproblem? Das sieht anders aus.
Eine differenzierte Analyse bringt natürlich nicht so viele Klicks wie ein reisserischer Artikel über «kriminelle Ausländer».
Betrachtet man hingegen die tatsächlich relevanten Zahlen – nämlich die Straftaten gegen das Strafgesetzbuch (StGB) – zeigt sich ein differenzierteres Bild: Von insgesamt 91’929 registrierten Beschuldigten sind 53’004 ausländische Personen. Davon nochmals fast 27’000 Personen aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (also zb. Deutsche, Franzosen & Italiener). Ein Anteil von 32–33 Prozent nicht-europäischer Beschuldigter, isoliert betrachtet, mag zunächst hoch klingen – sagt aber rein gar nichts aus, wenn man nicht auch die Bevölkerungsstruktur, sozioökonomische Faktoren und systemische Hürden einbezieht.
Viel entscheidender ist, dass die Gesamtzahl der Gewaltstraftaten im Jahr 2024, unabhängig von der Herkunft, um 3,3 Prozent auf 48’943 Fälle gestiegen ist. Hier geht es nicht um ein «importiertes Gewaltproblem», sondern um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Die eigentliche Frage wäre also: Warum ist das so? Aber eine differenzierte Analyse bringt natürlich nicht so viele Klicks wie ein reisserischer Artikel über «kriminelle Ausländer».
Die Gefahr pauschaler Zuschreibungen
Besonders gravierend ist auch, dass ein entscheidender Aspekt völlig unerwähnt bleibt: Der Anstieg der Gewalt im häuslichen Bereich um 6,1 Prozent (21’127 Vorfälle) im Vergleich zum Vorjahr. Darüber hinaus zeigen die Zahlen für 2024, dass von den insgesamt 45 polizeilich registrierten vollendeten Tötungsdelikten, 26 (57,8 Prozent) im häuslichen Bereich stattfanden.
Die pauschale Verurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen auf Basis von vereinzelten, aus dem Kontext gerissenen Zahlen ist nicht nur methodisch fragwürdig, sondern auch gefährlich.
Ebenso sind schwere Körperverletzung (+20,4 Prozent, insgesamt 177 Straftaten), Gefährdung des Lebens (+46,3 Prozent, insgesamt 158 Straftaten) und Vergewaltigung (+30,4 Prozent, insgesamt 480 Straftaten) im häuslichen Umfeld signifikant gestiegen. Diese Zahlen belegen eindrücklich, dass Gewalt nicht primär ein importiertes, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist – eines, das in der Schweiz insbesondere Frauen in ihren eigenen vier Wänden betrifft.
Die pauschale Verurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen auf Basis von vereinzelten, aus dem Kontext gerissenen Zahlen ist nicht nur methodisch fragwürdig, sondern auch gefährlich. Denn sie trägt dazu bei, rassistische Stereotypen in der öffentlichen Debatte zu verankern, und schafft ein Klima der Angst vor «dem Fremden». Eine demokratische Gesellschaft darf sich nicht von solchen vereinfachenden und hetzerischen Darstellungen spalten lassen.
Würde man Briellmann aus rein statistischer Konsequenz wegen Volksverhetzung gemäss Artikel 261bis StGB anzeigen, dann wäre er in der nächsten Polizeistatistik ganz sicher als Straftäter gelistet.
Eine Frage der Verantwortung in der Medienlandschaft
Journalisten und Kolumnisten tragen eine immense Verantwortung – vor allem dann, wenn sie mit populistischen Botschaften und reisserischen Formulierungen jonglieren. Würde man Briellmann nun aus rein statistischer Konsequenz wegen Volksverhetzung gemäss Artikel 261bis StGB anzeigen (was wir uns als Experiment überlegen könnten), dann wäre er in der nächsten Polizeistatistik ganz sicher als Straftäter gelistet – noch bevor überhaupt ein Gericht über Schuld oder Unschuld entschieden hätte. Ironisch, nicht wahr? Einmal mehr zeigt sich: Zahlen können vieles suggerieren, aber ohne Kontext sind sie so aussagekräftig wie ein Horoskop in der Boulevardpresse.
Wer mit verzerrten Statistiken hantiert, sollte sich bewusst sein, dass er nicht nur mit Zahlen, sondern mit gesellschaftlichem Sprengstoff spielt.
Statt Fakten sauber einzuordnen, verkommen manche Medienschaffende zu Möchtegern-Journalisten mit rechten Tendenzen – die eine Feder so führen, dass sie Ängste schürt, anstatt Aufklärung zu betreiben. Wer mit verzerrten Statistiken hantiert, sollte sich bewusst sein, dass er nicht nur mit Zahlen, sondern mit gesellschaftlichem Sprengstoff spielt.
Ist pauschale Hetze salonfähig geworden?
Unsere Demokratie lebt von einer offenen und differenzierten Auseinandersetzung mit der Realität. Die Polizeistatistik 2024 zeigt, dass die Fakten keineswegs schwarz-weiss sind und dass pauschale Verurteilungen – wie sie in einigen aktuellen medialen Darstellungen propagiert werden – den komplexen Zusammenhängen nicht gerecht werden.
Es liegt in unserer Verantwortung, diesen Vereinfachungen entschieden entgegenzutreten, indem wir auf Transparenz, differenzierte Analysen und einen respektvollen Dialog setzen. Nur so können wir verhindern, dass aus nüchternen Zahlen ein politisches Instrument der Hetze wird – ein Instrument, das letztlich mehr spaltet als es aufklärt.
Statt in Angst zu verharren, sollten wir uns gemeinsam den wahren Herausforderungen stellen: den sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten, die unsere Gesellschaft durchziehen, sowie der allgegenwärtigen Gewalt im häuslichen Bereich, die vor allem Frauen betrifft. Die Wahrheit liegt in der Vielschichtigkeit der Fakten – und es ist an uns, sie in ihrer ganzen Komplexität anzuerkennen und zu verteidigen.
Ein Beitrag von Ayaan Mehdi
So sehr ich mit dir einverstanden bin, dass wir diese Diskussion nicht auf der Prämisse des “bösen” Ausländers führen dürfen, eine Straftat ist eine Straftat, egal ob sie von “Schweizer:innen” ausgeführt werden kann oder nicht. Wenn du die häuslichen Straftaten als richtiges und gutes Beispiel einbringst und spezifisch zum Thema, dann lieferst du das Argument mit, dass diese Straftaten im Haushalt aller Kulturen und Nationalitäten passieren, dieses Argument wird dem Thema kaum den Sprengstoff entziehen. Was viele meiner Ansicht nach nicht verstehen ist, dass selbst vermeintlich “importierte Gewalt” nicht importiert ist, sondern hier stattfindet. In unserem Umfeld innerhalb unserer Gesellschaft und dass das nicht einfach aus unserem Verantwortungsbereich geschoben werden kann. Das macht ebenfalls deutlich; das Argument, dass “Ausländer” überproportional in unseren Gefängnissen und Massnahmezentren vertreten seien, ist nicht wirklich eines. Was haben z. B. Einkommen, Lebensbedingungen — Armut — mit den Straftaten zu tun, diese Aufschlüsselung würde ich persönlich sehr viel mehr bevorzugen.
Trotzdem finde es richtig und wichtig, dass über die Verhältnisse und Statistiken laut und aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird, denn wie wir auch hier erleben, Zahlen alleine dürfen nicht das Totschlagargument sein und “der böse Ausländer” als Sündenbock für nahezu jeden (behaupteten) Missstand genauso wenig.
Danke @babanews und Ayaan Mehdi für diesen wichtigen Beitrag. Klare Worte, differenzierte Analyse und eine Haltung, die Mut macht. Inmitten lauter Pauschalisierungen erinnert ihr uns daran, dass Journalismus Verantwortung trägt. Diese Arbeit verdient Support – und Aufmerksamkeit.
Ich gratuliere Ihnen für diesen Artikel. Schlicht grossartig. Baba News ein Lichtschein in der trüben Medienlandschaft. Natürlich werde ich nun ein Mitglied von Baba News.… Marcel Bosonnet, Rechtsanwalt