Der israelische Präsident Isaac Herzog kam im Januar für das WEF in die Schweiz. Dabei werden ihm vor dem Internationalen Gerichtshof genozidale Aussagen vorgeworfen. Nun wird Herzog in der Schweiz angezeigt – u.A. vom Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin. Im Interview spricht Stolkin über die Hintergründe der Anzeige.
Woher kam die Motivation für die Anzeige?
Im Oktober 2023 begann Israels Militär, grossflächig Gebäude zu bombardieren, Menschen zu vertreiben, auf Krankenhäuser und Flüchtlingszelte zu schiessen, auf Menschen, Spitaldirektoren und Kinder. Das israelische Militär beging Gräueltaten, wie wir sie sonst nur aus Darfur, dem Sudan, der Ukraine oder dem Kongo kennen. Das alles ist mehrfach und unabhängig dokumentiert. Für uns ist klar, dass es eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen braucht. Da sich unsere westlichen Staaten hier auffällig zurückhalten, haben wir uns entschieden, selbst eine Anzeige zu verfassen.
Im Januar fand in Davos das World Economic Forum (WEF) statt. Mit dabei war der israelische Präsident Isaac Herzog, der dort fleissig Hände mit internationalen Politiker*innen schüttelte – darunter auch mit dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis. Ebenso bot das WEF Herzog eine Bühne, auf welcher er ein Interview gab. Er kam unter anderem auf den Waffenruhe-Deal mit der Hamas zu sprechen. Dieser beinhaltet die Freilassung von rund 2’000 palästinensischen Gefangenen im Gegenzug für rund 90 israelische Gefangene.
Herzog behauptete, Israel müsse «schreckliche, barbarische Terroristen» freilassen, um «Frauen und Kinder» zurückzubekommen. Dass unter den palästinensischen Gefangenen dutzende Kinder und Frauen sowie zahlreiche Häftlinge sind, die nie eine Anklage oder einen Prozess erhalten haben und willkürlich in Verwaltungshaft gehalten werden, liess Herzog aus. Auch sein Interviewpartner, CNN-Journalist Fareed Zakaria, wies weder ihn noch das Publikum darauf hin.
Mit Herzogs WEF-Auftritt waren nicht alle einverstanden. Denn dem israelischen Präsidenten wird unter anderem vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) vorgeworfen, genozidale Aussagen getroffen zu haben. Am 12. Oktober 2023 sagte Herzog, es sei «eine ganze Nation dort draussen, die verantwortlich [für das Hamas-Massaker] ist». Er betonte: «Die Rhetorik, dass es Unschuldige gibt, stimmt nicht.» Südafrika verwendet das Zitat bei einer Genozid-Klage gegen Israel als Beweismittel für genozidale Absichten. Herzog sorgte weiter im Dezember 2023 für Aufsehen, als er eine Nachricht auf eine Bombe schrieb, die in Gaza zum Einsatz kommen sollte.
Mehrere Schweizer Gruppierungen haben entschieden, Strafanzeige gegen Herzog zu erstatten. Eine der Anzeigen geht vom Schweizer Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin und seinem Team aus. Stolkin zog die Schweiz schon mehrfach vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und gewann. Nun fordern er und sein Team, dass Herzog festgenommen und vor Gericht gebracht wird. Doch daraus wurde bislang nichts. Die Schweiz liess Herzog nach dem WEF wieder ausreisen – die juristischen Massnahmen sind damit aber nicht beendet. Im Interview erklärt Stolkin, was ihn antreibt, wie es nun weitergeht und auf welcher Grundlage er den israelischen Präsidenten vor Gericht ziehen will.
Wie lange hat die Planung der Strafanzeige gegen Herzog gedauert?
Wir haben vergangenes Jahr damit begonnen, im Rahmen seines WEF-Besuchs 2024. Damals wollten wir keinen Schnellschuss riskieren und waren uns sicher, er wird wiederkommen, was er dieses Jahr auch getan hat. Das gab uns die Zeit, eine 115-seitige Strafanzeige zu schreiben. Pünktlich zu Herzogs WEF-Auftritt reichten wir die Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein.
«Hierzulande ist es offenbar nicht so wichtig, wenn Kinder getötet oder Spitäler bombardiert werden, solange die Opfer palästinensisch sind.»
Wir haben also ein Jahr lang recherchiert, wobei uns auch die Diskrepanz der Medienberichterstattung in der Schweiz und Deutschland im Vergleich zu BBC oder Al Jazeera auffiel. Hierzulande ist es offenbar nicht so wichtig, wenn Kinder getötet oder Spitäler bombardiert werden, solange die Opfer palästinensisch sind. Umso wichtiger ist es, dass die Schweiz ihrer Verantwortung nachkommt und eine Strafuntersuchung einleitet – was wir mit unserer Anzeige bezwecken wollen.
Wer ist an der Anzeige beteiligt?
Ich habe das Glück, mit zwei Assistentinnen sowie dem ehemaligen Staatsanwalt Dr. Peter Rüegger zusammenarbeiten zu können. Gemeinsam haben wir die Anzeige vorbereitet – im Namen von drei Opfern des Genozids in Gaza, die als Nebenklägerinnen auftreten. Wie wir erfahren haben, wurde unabhängig von uns auch noch mindestens eine weitere Anzeige gegen Herzog erstattet, von einer Gruppe namens Legal Action against Genocide, was wir sehr begrüssen.
Inwiefern sind die Geschädigten betroffen? Kommen sie aus Gaza?
Ja. Ihnen ist die Flucht gelungen. Aber der Krieg hat sie schwer gezeichnet. Unsere Klientinnen haben schreckliche Dinge miterlebt. Sie haben Abgründe und Grauen des Krieges gesehen, zerstörte Häuser, Leichen, Raketen, die in Spitäler flogen. Ihre Familienmitglieder wurden ermordet und verstümmelt, ihre Häuser zerstört.
Gehören zu den Forderungen auch Entschädigungen für die Betroffenen?
Grundsätzlich gilt das Prinzip: Bei verletzten Völker- oder Menschenrechten gilt Anspruch auf Wiedergutmachung. Diese gehört daher auch zu unseren Zielen.
Worin sehen Sie Herzogs Mitschuld? Wie wird die Anzeige begründet?
Präsidenten eines Staates wie Israel haben ein hervorgehobenes Amt. Sie unterzeichnen Gesetze, sind die moralische Instanz eines Staates. Herzog hat mit seiner Aussage alle Menschen in Gaza zu Terroristen erklärt. Damit hat er das Kriegs- und Humanitätsverbrechen – den Genozid – legitimiert. Er muss sich dafür juristisch verantworten.
«Als Staatspräsident hatte er die Aufgabe, (…) klarzumachen, dass er Menschen- und Völkerrechtsverstösse verurteilt und dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.»
In der Anzeige berufen wir uns auf die Vorgesetztenverantwortung Herzogs. Das bedeutet, dass ein Vorgesetzter für die Straftaten eines Untergebenen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann. Wenn man weiss oder hätte wissen können, dass sich Soldaten Gräueltaten schuldig machen, wie jene, die in Gaza und der Westbank an der Tagesordnung stehen, dann hat man als Vorgesetzter wie Herzog eine Handlungspflicht. Als Staatspräsident hatte er die Aufgabe, klarzumachen – und zwar eindeutig klarzumachen –, dass er Menschen- und Völkerrechtsverstösse verurteilt und dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Er hätte die Generäle, Soldaten und den Rest der Regierung aufrufen müssen, keine Zivilpersonen zu töten, die Spitäler und Kindertagesstätten, die kritische Infrastruktur sowie Zeltlager zu verschonen. Er hätte dazu anhalten müssen, dass die Korridore für Hilfsgüter und Nahrungsmittel offen bleiben.
Stattdessen goss er zusätzlich Öl ins Feuer, indem er eine Bombe signierte. Damit ist er Mittäter von Premier Nethanyahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant, gegen die der Internationale Strafgerichtshof bereits Haftbefehle ausgestellt hat.
Diese Immunität hat aber gewisse Grenzen: Wenn es um Dinge wie Genozid, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht.
Die Bundesanwaltschaft gibt an, aktuell werde die Immunität Herzogs geprüft. Was ist damit gemeint?
Es gibt das sogenannte Wiener Abkommen, das besagt, dass Staatsträger und Funktionsträger auf hoheitlichem Gebiet immun sind. Der Staat hat Gebiete, in denen er etwas befehlen kann. Zum Beispiel muss man Steuern zahlen. Die Menschen haben sich daran zu halten. Das sind alles hoheitliche Gebiete, die in den Nationalstaaten auf Funktionsträger verteilt sind. Und kein Nationalstaat kann einen Funktionsträger eines anderen Nationalstaates in Haft nehmen. Das nennt sich Immunität.
Diese Immunität hat aber gewisse Grenzen: Wenn es um Dinge wie Genozid, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht. Wenn Herzog das toleriert und seiner Stellung als Vorgesetzter nicht nachkommt, dann beginnt die Strafbarkeit und deshalb gilt es, die Immunität zu prüfen.
Wird die Bundesanwaltschaft das auch so sehen?
Bislang haben wir noch keinen Entscheid mitgeteilt bekommen. Aber uns wurde bestätigt, dass die Anzeige bei ihnen eingegangen ist, was wir als einen ersten Schritt in die richtige Richtung werten.
Was geschieht jetzt? Kann überhaupt noch etwas unternommen werden, wenn Herzog bereits ausgereist ist?
Unser Ziel ist es, das Verfahren offenzuhalten. Nicht einstellen, sondern sistieren. Das heisst, falls er nochmals kommen würde – wie er es die letzten Jahre wiederholt getan hat – dann könnte er festgenommen und untersucht werden.
Sollte sich die Schweizer Justiz ihrer Pflicht entziehen, gehen wir von einer Verletzung der Untersuchungspflicht aus, was wir im Einzelfall einerseits bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen können, andererseits aber auch Anzeige bei anderen internationalen Instanzen erheben können. Da werde ich nicht lockerlassen, komme was wolle.
Wollen Sie auch gegen andere israelische Regierungsmitglieder juristisch vorgehen?
Das müsste man direkt beim Internationalen Strafgerichtshof machen, denn in der Schweiz kann ein Strafverfahren nur dann eingeleitet werden, wenn sich der Täter im Land befindet – deshalb haben wir die Anzeige auch erst eingereicht, als Herzog in der Schweiz war.
Was fordern Sie von der Schweiz ausser der Untersuchung von Herzog?
Keine Waffenlieferungen an Israel. Kein politischer Akteur im Gazastreifen hat die Stärke der israelischen Armee, selbst die Hamas sind nur Milizionäre, die es niemals mit der modernen Armee Israels aufnehmen können. Es gibt keinerlei Flugabwehr. Keinerlei adäquate Mittel der palästinensischen Bevölkerung, sich zu verteidigen. Die israelische Armee verwendet 900 Kilo Bomben, schiesst mit Panzern auf Wohnhäuser, verwendet modernste KI. So kam es nach derzeitigen Erkenntnissen zu 47’000 Toten, darunter 17’000 Kinder.
Kein Zweifel: Terroristen gehören verfolgt – aber mit den Mitteln eines Rechtsstaates. Täter auf beiden Seiten gehören vor den Internationalen Strafgerichtshof. Stattdessen nimmt die israelische Armee mit dem Segen Herzogs die ganze Bevölkerung in Sippenhaft, bombardiert, mordet und meuchelt die Zivilbevölkerung, lässt sie hungern und bewaffnet die Siedler in der Westbank. Es besteht kein Zweifel, dass dies juristisch aufgearbeitet werden muss. Die Verantwortlichen, auch der Präsident, gehören vor Gericht. Besonders die Schweiz, die sich bislang damit begnügt hat, Herzog in Davos den roten Teppich auszurollen, trägt hier eine Verantwortung. Immerhin ist die Schweiz Depositarstaat der Genfer Konventionen.
Können Sie erklären, was mit Depositarstaat gemeint ist?
Die Schweiz ist Depositarstaat der sogenannten Genfer Konventionen. Dazu gehört auch die Genozid-Konvention von 1948, die nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufen wurde und die die völkerrechtliche Definition von Genozid festhält. Die Schweiz wird somit zur Hüterin und Förderin dieser Konventionen, die auch diplomatische Initiativen, wie etwa internationale Versammlungen, starten kann. Ein Depositarstaat hat daher eine höhere Verantwortung für die Einhaltung der Konventionen.
«Ohne Rücksicht auf die immensen Opfer in der Bevölkerung des Gazastreifens liefert die Welt weiter Waffen nach Israel. Das muss aufhören.»
Gemäss der Genfer Genozid-Konvention müssen Staaten bereits bei Verdacht auf Genozid handeln, nicht erst bei einem bestätigten Genozid.
Genau. Der Verdacht reicht. Deshalb ist gerade von einem Depositarstaat zu erwarten, dass er ein Verfahren einleitet.
Was verlangen Sie von der internationalen Gemeinschaft?
Kinder zu erschiessen, Flüchtlingslager zu bombardieren und knapp zwei Millionen Leute zu vertreiben – das sind Signale einer ethnischen Säuberung. Einer derartigen Ungerechtigkeit muss man gegensteuern. Der Westen muss konsequent sein. Es ist richtig, im Zusammenhang mit der Ukraine von Werten zu sprechen, die unumstösslich sind – und es ist falsch, die genau gleichen Werte in Gaza unbeachtet zu lassen. Ohne Rücksicht auf die immensen Opfer in der Bevölkerung des Gazastreifens liefert die Welt weiter Waffen nach Israel. Das muss aufhören.
Weiter verlange ich, dass Israel/Palästina eine Heimstätte für alle wird – für Palästinenserinnen und Palästinenser sowie auch für jüdische Menschen. Ich verlange eine fundamentale Gleichberechtigung. Dass alle die gleichen Rechte haben.
Ich verlange zudem umgehend den Rückzug aller illegalen Siedlerinnen und Siedler. Ich verlange, dass die israelische Politik sich aktiv an der Aufarbeitung des Genozids und der Nakba beteiligt. Zudem braucht es eine Wiedergutmachung, durchaus eine gegenseitige, es gab ja auch unmenschliche Kriegsverbrechen der Hamas.
«Nur ein gerechter Frieden hält an, einer, der auf Augenhöhe geschlossen wird, nicht gestützt auf die militärischen Machtverhältnisse.»
Aktuell sind wir weit von der Umsetzung solcher Forderungen entfernt. Netanyahu darf trotz internationalem Strafbefehl nach Polen reisen und die USA wollen den Internationalen Strafgerichtshof sanktionieren. Können solche Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit ein Versuch sein, sich der Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu entziehen?
Genau, es wird versucht, Recht zu delegitimieren. Das darf nicht passieren. Wir müssen auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte bestehen. Da gibt es keinerlei Kompromiss. Meiner Meinung nach braucht es eine rechtliche Aufarbeitung – nicht nur des heutigen Genozids in Gaza, sondern auch der jahrzehntelangen Besatzung und Vertreibung. Wir brauchen eine umfassende Lösung. Nur ein gerechter Frieden hält an, einer, der auf Augenhöhe geschlossen wird, nicht gestützt auf die militärischen Machtverhältnisse. Zu denken ist etwa an das Rückkehrrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser.
«Es gibt keine Menschen zweiter Klasse. Auch nicht in Israel.»
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
Frieden. Schon vor diesem ultimativen Massaker gab es Friedensbewegungen auf beiden Seiten – israelische, die mit palästinensischen Bewegungen unerschrocken zusammenarbeiteten. Das macht Hoffnung. Es zeigt: Frieden ist möglich. Aber dafür muss den palästinensischen Menschen Gerechtigkeit widerfahren. Es braucht fundamentale Gleichberechtigung. Und darin liegt auch meine Motivation. Es gibt keine Menschen zweiter Klasse. Auch nicht in Israel.
Vielen Dank für dieses Interview herzlichen Dank an Herrn Stolkin und Team für deren unermüdliche Arbeit! Es gibt Mut zu wissen, dass es tapfere Mitmenschen unter uns sind, die gegen diesen abscheulichen Genozid Israels und der USA sowie deren Verbündeten aufstehen und tatkräftig dagegen halten.