Artikel unserer Gastarbeiter*innen Balkan Community

«Ich vermisse den «Shaci»-Sommer»

Covid-19 hat vielen «Shacis» einen Strich durch die Ferienplanung gemacht. Wonach sie sich sehnen, beschreibt Gastarbeiterin Arzije.

Ich sitze auf meinem Bürostühl und arbeite. In voller Lautstärke läuft albanische Popmusik. Es ist nicht mal unbedingt mein Musik­ge­schmack, doch während ich lauthals mitsinge, verspüre ich plötzlich ein sehr starkes Heimweh nach dem Kosovo. Ich geniesse alles, was mich daran erinnert. Momentan ist es eben dieser Popsong «Anna» von Nora Istrefi.

Vor allem jetzt, wo wir wegen Covid-19 nicht hin dürfen, ist mein Verlangen um so stärker dahin zu reisen. Haben sich meine Eltern wohl so gefühlt, als sie in die Heimat wollten, aber nicht konnten, weil sie hier in der Schweiz arbeiten mussten? Mein Herz schlägt immer noch stark gegen meine Brust. Mittler­weile bin ich aufge­standen und versuche zu diesem langsamen Beat mitzu­tanzen. Ich sehe die Strassen Pristinas vor mir.

Mir würde es nichts mehr ausmachen, wenn mich meine Verwandten und Freund*innen mit «Shaci»* begrüssen würden. Ich würde sie direkt in meine Arme schliessen und bis spät in die Nacht mit ihnen zusammen Zigaretten rauchen, Chipsy mit Ketchup-Geschmack knabbern und über Gott und die Welt philo­so­phieren. Ich kann die Hochzeiten im Kosovo nicht ausstehen, aber auch das würde ich mir jetzt antun. Ich würde eine kalte Fanta Exotic trinken und dazwi­schen versteckt einige Schlucke Raki hinun­ter­kippen. Wenn der Raki seine Wirkung erlangt hatte, würde ich zusammen mit meinem Vater angetrunken Tallava tanzen, obwohl ich die Schritte gar nicht kann.

Mir würde es nichts mehr ausmachen, wenn mich meine Verwandten mit «Shaci» begrüssen würden.

Am nächsten Tag würde ich dem «Shaci»-Stereotyp voll nachkommen. Ich würde mit herun­ter­ge­kur­beltem Fenster und lauter Musik die Strassen Pristinas hinauf und hinab fahren. Zum Frühstück würde ich mir beim Stand um die Ecke einen frischen Börek mit Spinat holen. Den ganzen Tag lang würde ich die verschie­denen Cafés abklappern und einen Cappuccino nach dem anderen trinken. Am späten Nachmittag würde ich mir dann an der Haupt­pro­menade ein Eis kaufen und auf den Sitzbänken neben der Skanderbeg-Statue verweilen, bis die Sonne unterging und es Zeit wurde, sich für den Abend herzurichten.

Gegen Mitter­nacht würde ich an den Stadtrand Pristinas hinaus­fahren, wo einige Nacht­clubs stehen. Ich würde mit hunderten anderen anstehen, bis ich endlich hinein könnte. Nur um dann mit den anderen Shacis aus der Diaspora die Nacht durch­zu­tanzen. Die einhei­mi­schen Jugend­lichen würden uns von der Ferne aus argwöh­nisch betrachten und es kaum erwarten, bis ihre geliebte Stadt wieder in den Normal­zu­stand zurück­kehren würde. Die Preise wieder gesenkt würden und an den Partys wieder Techno liefe, und nicht diese schwach­sinnige Popmusik, die sich die Shacis immer wünschten.

Ich würde mit lauter Musik die Strassen Pristinas hinauf und hinab fahren.

Um circa sechs Uhr morgens würde ich dann wieder den Hügel hinunter zurück­fahren. Die Skyline Pristinas würde mich im Schein der goldigen Morgen­sonne begrüssen und ich würde noch einen kurzen Halt machen in diesem Restaurant, bei dem alle nach dem Feiern noch eine Pizza verdrückten.

Nach dem inten­siven Shaci-Tag würde ich in das Dorf verschwinden, in dem mein Vater aufge­wachsen ist. Ich würde die gelbe, trockene Erde anfassen und die frische Luft tief in meine Lunge einatmen. Aus dem Garten würde ich «Speca» (lange, grüne Peperoni) pflücken, die ich später auf den Grill legen würde. Ich hätte irgend­welche Hausschuhe meiner Tante an, die viel zu klein wären für meine Füsse. Wenn es dann draussen dunkelte, würde ich mich auf den Balkon setzen und den Grillen zuhören, bis der Gesang des Imams ihr Zirpen unter­brach. Der sanfte Gesang würde mich an meine verstorbene Gross­mutter erinnern, die früher, als sie noch lebte, immer zu seinem Gesang gebetet hatte. Mit Tränen im Gesicht und meinen Kopf an die Schulter meiner Mutter gelehnt würde ich, ohne Decke, bei den warmen Tempe­ra­turen des Abends friedlich einschlafen.

Das Lied von Nora Istrefi ist nun zu Ende und ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch.

 

*Das Wort «Shaci» ist eine stereotype Reprä­sen­tation der Albaner*innen aus Deutschland, Öster­reich und der Schweiz und eine Methode der Selbsterniedrigung.

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert