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Fehldiagnose – «Einer Frau wird schneller unterstellt, dass sie ihre Symptome dramatisiert»

Über zwei Jahre lang gehörten Herzrasen, Schmerzen, Schwindel, Erbrechen und Ohnmacht zu Annies Alltag. Ärzt*innen führten dies auf ihre Psyche zurück.

Annie ist 23 Jahre alt, als sie merkt, wie ihr Körper schon bei der kleinsten Anstrengung schlapp­macht. Wegen des Herzrasens schickt der Hausarzt sie zur Kardio­login. Das 24-Stunden-EKG zeigt: auch im Ruhezu­stand hat Annie einen Puls von 200. Bei gesunden Erwach­senen liegt dieser im Optimalfall zwischen 60 und 80 Schlägen pro Minute. Die Verordnung der Kardio­login: Annie solle «mehr Ausdau­er­sport treiben, Wechsel­du­schen nehmen und mehr trinken». «Dabei konnte ich nicht einmal mehr eine Treppe hochgehen, ohne zu erbrechen», erinnert sich Annie.

Nach weiteren Besuchen beim Hausarzt kommt dieser zum Schluss, dass die Symptome «typisch seien für junge Frauen». Annie solle sich in Psycho­the­rapie begeben. Auch auf der Notfall­station im Spital wird Annie immer wieder abgewiesen. «Sie wollten darauf hinaus, dass ich als junge Frau meine Symptome etwas drama­tisch darstellen würde», erklärt Annie im Video.

«Ich stand auf. Duschte. Erbrach in die Dusche. Rannte zum Bus. Erbrach an der Busstation. Bei der Arbeit rannte ich zwei, dreimal aufs WC, um zu erbrechen. Am Abend nochmal dasselbe.»

«Zu diesem Zeitpunkt war ich wohl zwei Jahre lang wirklich krank. Und irgendwann schlägt das natürlich auch auf die Psyche über. Du kannst nicht einfach happy sein.» Sie habe jeden Tag berechnen müssen, welche Bewegungen und Aktivi­täten körperlich drinlagen und welche nicht. «Es wurde zu einem konstanten Navigieren im Alltag», sagt sie.

Annie kann sich daran erinnern, wie sie in der Badewanne lag und ihrem Bruder eine Nachricht schrieb: «Ich habe das Gefühl, ich sterbe. Was soll ich tun?» Auf der Notfall-Station hatte Annie dann «Glück». Bei ihr wurde ein Blutdruck von 270 gemessen. Bei einem Ultra­schall entdeckten die Ärzte schliesslich eine Zyste auf ihrer Niere. Annie beharrte auf eine nähere Unter­su­chung der Zyste. Dabei stellte sich heraus, dass sie einen Tumor hatte. Dieser hatte in all den Monaten, in denen er nicht diagno­sti­ziert worden war, Zeit zum Wachsen gehabt. Drei Wochen verbrachte Annie im Spital, als Vorbe­reitung für die Operation.

«Ich habe das Gefühl, ich sterbe.»

«Es war so befreiend, zu wissen: Sie haben es gefunden! Ich glaube, es waren meine besten drei Wochen seit Jahren», sagt Annie, und die Erleich­terung, die sie damals gespürt hatte, ist ihr deutlich anzusehen. Heute plädiert sie dafür, dass Ärzt*innen ihre eigenen Denkmuster und den eigenen Sexismus hinter­fragen. «Unter­stelle ich einer Frau bei einer Unter­su­chung schneller, dass sie psychisch instabil ist oder ihre Symptome dramatisiert?»

  1. Marianne Loosli-Widmer

    das nennt man medical gaslighting
    habe ich auch erlebt von Macho-Aerzten

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