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From Balkan with Love – «Aus einer unterstützenswerten Idee wurde ein Totalschaden»

Im Juni veröffentlichte das Migros Magazin einen Schwerpunkt zum Thema Balkan. Gut gemeint und doch daneben. In einem offenen Leserbrief üben die Sekundarlehrerinnen Melani und Diana Kritik.

Liebes Migros Magazin, liebe Lisa Stutz

Gerne möchten wir zu eurem Magazin vom 15.06.2020 Stellung nehmen. Der Schwer­punkt zum Thema Balkan hat uns teilweise ratlos, teilweise verärgert zurück­ge­lassen. Jeden­falls hat er uns so getroffen, dass wir reagieren müssen.

Unsere Gross­eltern und Eltern sind vor Jahrzehnten aus dem Kosovo in die Schweiz immigriert, um hier zu arbeiten. Mit eurem Schwer­punkt-Thema «Balkan» versucht ihr über die «Balkaner*innen» zu schreiben. Aus einer unter­stüt­zens­werten Idee wird am Ende jedoch ein journa­li­sti­scher Totalschaden.

Der Haupt­ar­tikel beginnt mit der Aufklärung, dass der Freund eurer Redak­torin halb Kroate sei. Die Autorin versucht über ihn, den Leser*innen den Balkan näher­zu­bringen. Doch es stellt sich gleich die erste Frage: Ist dieser Mann reprä­sen­tativ für den ganzen Balkan? Journa­li­stisch gesehen passen Versuchs­an­ordnung und Ziel nicht zusammen. Am Ende bleibt eine subjektive Erfahrung, die dem Leser keine Erkenntnis bringt, ausser eine Reise miterlebt zu haben. Doch das war nicht die Idee des Textes.

Kroatien als Parade­bei­spiel für den ganzen Balkan zu nehmen ist falsch.

Ein Beispiel: Die Länder­liste in der Kopfzeile stellt dar, welche Länder zum Balkan gehören. Deutlich wird, dass der Balkan eine Region mit vielen Ländern ist. Was nicht klar wird, ist, wie unter­schiedlich diese sind. Kroatien als Parade­bei­spiel für den ganzen Balkan zu nehmen, ist mutig – aber leider falsch.

Erstaunt hat uns auch, dass Lisa Stutz vom «Balkaner» spricht. Der Begriff ist so nichts­sagend wie nutzlos – und unseres Wissens auch nicht in Gebrauch, demnach wohl mehr eine Eigen­erfindung. Hinzu kommt, dass er sich auf Männer fokus­siert. Wo bleiben hier die Frauen? Die neue Recht­schreibung mit dem Stern * sollte euch als Zeitung doch auch bekannt sein? Diese Schreib­weise anerkennt alle Geschlechter – welche es übrigens auch im Balkan gibt, sonst würde diese Region biolo­gisch aussterben.

Wo bleiben hier die Frauen?

Erstaunt hat uns auch, wie Lisa Stutz den Balkan (auch hier wieder alle Länder des Balkans) stereo­ty­pi­siert, auf Grundlage eigener Erfah­rungen, die sie in Kroatien gemacht hat. Offen­sichtlich war es ihre erste Reise in diese Region und daran ist nichts falsch – doch man merkt, dass sie etwas beschreiben will, wovon sie keine Ahnung hat. Anstatt einen Reise­be­richt zu verfassen, versucht sie die Welt zu erklären. Das Resultat ist naiv, denn der Autorin fehlt es offenbar an histo­ri­schem Hinter­grund­wissen. Kroatien in Sachen Charak­terzüge und Verhal­tens­weisen mit den anderen Ländern der Region zu vergleichen, lässt sich nicht einfach so ohne Recherche machen.

Schliesslich stellt ihr auf der Seite 22 und 23 dann dar, was «sie» (die Leute aus dem Balkan) «uns» gebracht haben. Nun, offen­sichtlich gehören unsere Gross­eltern und Eltern zur «sie»-Gruppe. Personen in «sie» und «uns» zu trennen, ist rassi­stisch. Unsere Gross­eltern, Eltern und wir sind alle sind «sie» und «uns», denn wir alle leben in der Schweiz und sind auch Schweizer*innen. Hört auf, uns zu trennen! Diese Spaltung erschwert uns jedesmal das Gefühl der Zugehörigkeit.

Unsere Gross­eltern, Eltern und wir alle sind «sie» und «uns», denn wir alle leben in der Schweiz und sind auch Schweizer*innen.

Was Taxifahrer oder Fussball­spieler angeht – in unserer Familie haben wir weder das eine noch das andere. Auch haben wir keinen Schre­ber­garten mit irgend­einer Flagge montiert, und wir tragen auch keine Trainer­hosen, sobald wir das Haus verlassen. Modege­schmack ist subjektiv und nicht vom Balkan abhängig. Die Beispiele sind so stereotyp, dass es weh tut. Die Auswahl sagt mehr über die Autoren des Beitrags aus, als über die Menschen, die sie damit beschreiben wollen. Dass einzelne Journalist*innen noch immer mit solchen Stereo­typen hantieren, verärgert uns. Ist das nicht schon seit Jahren überwunden?

Zum Schluss möchten wir noch anmerken, dass wir den Begriff des «Balkans­langs» noch nie gehört oder gelesen haben. «Gömmer Migros?» (S. 30) und weitere Ausdrücke, die ihr aufge­griffen habt, sind bei einigen unserer Schüler*innen ebenfalls in Gebrauch – doch nicht nur bei denje­nigen, die eurer Definition nach «Balkaner» sind.

Der Balkanslang ist, wenn überhaupt, eine Sprech­weise der Jugend.

Die Stereo­ty­pi­sierung, dass unsere Gross­eltern und Eltern aus Kosovo stammen und wir nun diese Ausdrücke gebrauchen würden, sitzt in den Köpfen vieler Menschen. Der von euch genannte Balkanslang ist, wenn überhaupt, eine Sprech­weise der Jugend. Auch hier werden Migrant*innen herab­ge­setzt, was wir als rassi­stisch taxieren.

Zum Schluss: Unsere Schüler*innen, nach eurer Definition «Balkaner», sehen sich nicht als solche. Wir haben sie gefragt.

Melani und Diana Alilaj, Sekundarlehrerinnen

 

  1. Ksenija Vujotic

    Liebe Melani, liebe Diana

    Ich danke euch beiden herzlich für diesen offenen Leser­brief ans Migros Magazin. Mir erging es bei der Lektüre dieses Beitrags genauso wie euch. Ich war bass erstaunt über die Stereo­ty­pi­sierung des “Balkaners”, die fehlende Tiefe der Beiträge und die absolute Oberfläch­lichkeit der Texte. Als Seconda, meine Eltern sind in den 70er Jahren aus Ex-Jugoslawien in die Schweiz emigriert, fühlte ich mich überhaupt nicht identi­fi­ziert mit dem Inhalt des Beitrags und einmal mehr mit einer komplett verfehlten Aussen­sicht auf “uns Balkaner” schub­la­di­siert. Wahrhaftig ein Totalschaden. 

    Herzlich,
    Ksenija

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